Etwas, an das ich mich selbst immer mal wieder erinnern muss, ist, dass ich im gewissen Sinne die letzten 12 Jahre meines Lebens verloren habe – und zwar dank etwas, das gerne als „unsichtbare Krankheit“ bezeichnet wird, das aber sehr sichtbare Spuren in meinem Leben hinterlassen hat.
Ich bin zwar noch nicht ganz da, wo ich gerne sein will, aber ich fühle mich immer mehr, als würde ich so langsam aus einer Art Wachkoma erwachen. Eine Zeit, in der ich von außen betrachtet halbwegs normal gewirkt habe, mein Leben aber eigentlich völlig auf Stand-by stand, und das in so ziemlich allen Lebensbereichen außer vielleicht noch im Job. (Funktionieren konnte ich schon immer gut.)
Mir fehlen wichtige Jahre
Ich realisiere tatsächlich erst jetzt so richtig, dass ich fast schon das normale Leben neu lernen muss – so wie ich auch ganz neu herausfinden muss, wer ich eigentlich bin. Denn was ich all die Jahre mehr oder weniger verdrängt habe ist, dass ich nach meiner Heilung nicht einfach da weitermachen kann, wo ich vor (jetzt) 12 Jahren aufgehört habe, als ich schließlich gefühlt noch ein Baby und die Welt eine ganz andere war.
Mir fehlen viele Jahre an wichtiger Lebenserfahrung – eine Zeit, in der andere heiraten, Familie gründen, Freundschaften pflegen, Karriere machen, reisen, Hobbys betreiben, Spaß haben, einfach das Leben leben. Während ich buchstäblich um mein Leben gekämpft habe und von außen betrachtet nicht von der Stelle gekommen bin, obwohl die Erde sich natürlich gnadenlos weitergedreht hat.
Inneres Wachstum
Was mir an konkreter Lebenserfahrung im Vergleich zu anderen in meinem Alter fehlt, habe ich dank meines langwierigen Heilungswegs stattdessen an innerem Wachstum gewinnen können; ein Weg, der mich mit vielem konfrontiert hat, mit dem sich die meisten anderen Menschen nie auseinandersetzen müssen.
Das hat mich jetzt an einen Punkt gebracht, an dem ich meine Identität ganz neu entdecken muss. Denn ich will (und kann) die „alte“ jüngere Ina gar nicht mehr sein, die viel zu sehr daran interessiert war, den Erwartungen anderer zu entsprechen, die sich zu sehr angepasst hat statt authentisch sie selbst zu sein. So habe ich auch meine Krankheit viel zu lange versteckt und lieber so gut es gerade ging eine „normale“ Fassade vorgespielt, statt die Situation wie sie nun mal war zu ownen und offen zu leben.
Leben neu lernen
So oder so, ich muss jetzt also mich selbst und meinen Platz im Leben finden. Nur: wo fange ich an? Es gibt ja kaum Vorbilder, denen es so geht wir mir, die mir Orientierung bieten könnten.
Der erste Schritt ist dann wohl unlearning, und zwar der Vorstellung, wie ich in einem bestimmten Alter (und überhaupt) zu sein habe, was ich erreicht haben muss. Ich muss mir klar machen, dass wir alle an unserem eigenen Punkt im Leben sind, es keine Regeln und Vorgaben gibt, wie man dieses Leben zu leben hat – auch wenn es immer und überall so suggeriert und vorgelebt wird.
Erst wenn ich an dem Punkt bin, mich von diesen Erwartungen (auch meinen eigenen) ausreichend freigemacht zu haben, kann die Reise zu mir selbst wirklich beginnen.
(Foto: Kendall Lane / Unsplash)