Schon immer hat das Bild des Phönix’ aus der Asche eine besondere Faszination auf mich ausgeübt – der Feuervogel, der verbrennt und vollständig neu geboren wird. Ein klarer Schnitt, Tabula Rasa.
Zum ersten Mal ist mir dieses Gefühl mit gerade einmal drei Jahren begegnet, als ich neu in den Kindergarten gekommen bin. (Ja, wirklich.) Ich erinnere mich noch daran, dass mir damals vage bewusst wurde, dass ich mich jetzt gewissermaßen völlig neu erfinden kann. Denn da war schließlich niemand, der schon ein fixes Bild von mir im Kopf hatte und mich danach bewerten und in die Form seiner Erwartungen pressen würde.
In den Jahren danach überkam mich dieses Gefühl jedes Mal nach den Sommerferien, wenn das neue Schuljahr startete. Als ob sechs Wochen Zeit genug sind, um genug Abstand zwischen mein altes und mein neues Ich zu bringen und die Vorstellungen anderer von mir komplett resetten zu können. (Hat leider nie funktioniert.)
Andere Menschen erleben dieses Phänomen jedes Jahr aufs Neue am 1. Januar. Frei nach dem Motto: Neues Jahr, neues Ich, ab jetzt wird alles anders! (Was auch nur selten funktioniert.)
Perfektionismus oder Wunsch nach Freiheit?
Aber warum ist das so, warum habe ich diese Sehnsucht nach einem völligen Reboot meines Lebens? Sehe ich ihn als einzige Möglichkeit, frei zu sein von den „Sünden“ der Vergangenheit – und zwar denen, ab und zu mal nicht perfekt gewesen zu sein? Also ein perfektionistischer Wunsch nach einer blütenrein weißen Weste ohne dunkle Flecken, durch die ich (vor allem in den Augen anderer) nie vollen Wert haben könnte?
Diese Art von Perfektionismus mag tatsächlich eine Rolle spielen, aber vor allem spüre ich – wie damals im Kindergarten – das Bedürfnis, endlich einfach nur ich selbst sein zu können, nicht mehr nach meiner Vergangenheit bewertet und dadurch kontrolliert zu werden. Wie eine echte Neugeburt, mit allen Chancen und Freiheiten, die diese mit sich bringt.
Ich will den Neustart also, um das loslassen können, was mich in der Vergangenheit festgehalten hat, was mich immer noch davon abhält, frei mein Leben leben zu können. Erst dann kann ich mein wahres Selbst wirklich zulassen – oder es überhaupt erst erkennen.
Ein innerer Prozess
Der Wunsch mag klar sein, leider ist die Umsetzung nicht ganz so einfach. Denn auch wenn es ursprünglich tatsächlich um die Erwartungen und Kontrollbedürfnisse anderer Menschen ging, so hat sich das Problem schon vor langer Zeit in mein Inneres verlagert. Was heißt, dass mein „Neustart“ vor allem eine innere Befreiung von eben diesen (gefühlten) Zwängen sein muss – eine Befreiung, die eben nicht von heute auf morgen passiert; so schön es auch wäre, einfach eine Relaunch-Taste drücken zu können.
Es ist ein langwieriger Prozess, bei dem ich die Vergangenheit immer wieder konfrontieren muss, um mich Stück für Stück von ihr befreien zu können. Das Verbrennen des Phönix’ geschieht also nicht wie erhofft in einem einmaligen, finalen, dramatischen Akt, sondern immer wieder aufs Neue, parallel zu seiner Wiederauferstehung.
(Foto: Drew Colins / Unsplash)